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„Il était une fois ... Es war einmal“

 

Textbeispiel

 

ich traf isou in seiner wohnung in saint-germain-des-prés das erste mal am neunzehnten januar neunzehnhundertneunundneunzig gegen sechzehn uhr. isou, den hochoffiziellen inaugurator und papst des lettrismus, den megalomanen, den alles-und-die-welt-erneuerungs-maniac, den vorherseher von achtundsechzig und verkünder der paradiesischen gesellschaft.

geht man von der metrostation saint michel aus durch die rue de saint andré des arts, kommt man rechterhand zu einem schmalen haus mit blaulackierter holzfassade und blauen fensterläden wie flügel. nach eingabe des zahlencodes öffnet sich die haustür, und man gelangt durch einen schmalen flur, an den briefkästen vorbei – jean isidore goldstein alias isidore isou –, über roten teppich in die zweite etage. aus einem nur durch eine nachträglich eingebaute tür vom haus getrennten apothekenlager dringen zutiefst medizinische gerüche, die alle stockwerke füllen.

roland sabatier, der seit jahren engste verbündete, der sich neunzehnhundertdreiundsechzig, siebzehn jahre nach seiner begründung, dem „mouvement lettriste“ angeschlossen hat, geht voran und schließt die wohnungstür auf: „isou, c’est moi, roland!“ – alles im lack. man kann eintreten. nur so kommt man in diese wohnung. außer einer haushälterin, die zweimal am tag erscheine, der mittlerweile vierzigjährigen tochter, einem arzt und ihm, sabatier, kenne niemand den zahlencode.

ein schmaler flur mit gar nichts als gar nicht mehr so weißen wänden. in der ganzen wohnung ist ein blauer teppich ausgelegt, den das zeitliche deutlich gesegnet hat. überall ist er aufgeworfen, trägt dunkle flecken oder geht einfach nur auseinander. nach links wirft man einen flüchtigen blick ins sich selbst überlassene bad, darin so dinge wie klo und spüle als insignien einer abgewohnten epoche. kaum einen meter breit der flur, der jetzt schnurgeradeaus ins zentrale zimmer der wohnung führt. merkwürdigerweise scheint nirgends eine küche zu sein. rechts ein fenster in den hof hinaus.

isou trägt so etwas wie einen norwegerpullover und sitzt an einem schreibtisch. er kann sich nur mit hilfe an der wand und geschickt im fensterrahmen befestigter haltegriffe erheben. weil ihm gehen völlig unmöglich geworden ist, verläßt er die wohnung außer zu hospitalbesuchen so gut wie überhaupt nicht mehr. so sitzt er also tagtäglich die meiste zeit vorm fenster an seinem winzigen schreibtisch, liest unentwegt und schreibt immer noch tausende von seiten. linkerhand steht ein telefon. durchwahl geheimsache. er versichert aber, tagtäglich mit leibhaftigen menschen zu telefonieren. auf dem kopf hat er eine eigenartige mütze, die ihm merkwürdig in die stirn hängt. bei meinem zweiten besuch am achten september zweitausend trägt er eine veritable nachtmütze aus weißer baumwolle, die er auch tagsüber nicht ablegt. wie im jahr zuvor weist roland eindringlich darauf hin, daß isou in mehr als beengten verhältnissen lebt. und tatsächlich braucht er nur von seinem weißen schreibtisch rückwärts ins bett zu kippen. davor lagert eine katheterflasche zum hineinpissen. alles scheint auf komplette unbeweglichkeit ausgerichtet. (…)

 
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